Vielfalt

Über die Vielfalt unserer Arbeit – und des Lebens.

Ein Text von Frau G.

Können Sie sich vorstellen, Ihr bisheriges Umfeld zu verlassen und in eine Wohnung einzuziehen, ohne diese gesehen zu haben und ohne zu wissen, mit wem Sie in den nächsten Wochen oder Monaten zusammenwohnen werden?

Ihr gesamtes Leben abrupt zu verändern?

Das ist die Situation von Frauen – und deren Kindern – die sich wegen häuslicher/familiärer Gewalt trennen und in unsere Zufluchtswohnungen einziehen.

In den sieben Wohnungen von Frauenzimmer e.V. wohnen Frauen jeden Alters. Die Frauen müssen mindestens 18 Jahre alt, das heißt volljährig sein, um einziehen zu können.

 

Die älteste Frau, die ich während meiner Arbeit im Frauenhaus beraten habe, war Mitte siebzig und wollte „wenigstens die letzten Jahre ihres Lebens in Ruhe leben“, wie sie sagte. „Schlagen würde er sie schon seit Jahren nicht mehr, das habe er getan, als sie jung waren, dazu fehle ihm jetzt die Kraft, aber der Psychoterror, der sei unerträglich.“ Sie zog in ein kleines Apartment in einem schönen Seniorenheim und wirkte äußerst zufrieden mit ihrer Entscheidung.

 

Die Kinder der Frauen sind aller Altersstufen: Frauen kommen in ihrer Schwangerschaft zu uns, Babys werden während der Wohndauer geboren. Manchmal ziehen bereits volljährige Töchter mit ihren Müttern ein.

Zeitweise wohnen drei Babys in einer Wohnung, manchmal leben sieben Kinder verschiedenen Alters mit ihren Müttern in einer großen Wohnung bei uns.

Die Frauen und ihre Kinder kommen aus zahlreichen Ländern und Kontinenten. In der Regel sind 70 – 80 % der Frauen, die bei uns wohnen, aus einem anderen oder mehreren anderen Kulturkreisen.

 

Von den Frauen und ihrer Situation lerne ich viele Aspekte des Lebens aus verschiedenen Teilen der Welt kennen: Wie ist es in Ghana, wenn eine Frau Kinder hat und nicht verheiratet ist? Wie geht es einem neunjährigen Kind, das allein von Sierra Leone nach Deutschland zum unbekannten Vater geschickt wird? Was machen junge Frauen, die in Deutschland aufgewachsen sind und mit 12 Jahren im Heimatland dem Cousin versprochen wurden? Wie geht es einer Frau, die im Heimatland ihre Schule verlassen muss und ins unbekannte Deutschland verheiratet wird? Wie ist es für Frauen, zu ihrer Herkunftsfamilie keinen Kontakt haben zu können, weil die Familie die Trennung von einem Misshandler nicht akzeptiert und die eigene Familie der Frau mit Mord droht?

 

Es sind sehr verschiedene Wege, Kulturkreise, Lebensgeschichten, Charaktere und Probleme, die die Frauen und Kinder mitbringen.

Die Gewalt, die die Frauen erlebt haben ist sehr unterschiedlich: körperliche und/oder psychische Gewalt, sexuelle Gewalt, Zwangsheirat, Isolation, Zwang zur Prostitution, Einsperren, u. a. Frauen erleben Gewalt durch ihren Partner/Mann/Eltern/ Brüder/Söhne oder Partnerin/Lebensgefährtin. Sie erfahren Diskriminierung und Gewalt in ihrer Familie, weil sie lesbisch sind. Es gibt die Erfahrung von Migration, von Krieg und Flucht, Rassismus. Frauen bringen psychische Erkrankungen und Suchtprobleme mit. Manche Frauen geraten erst durch ihre Migration in prekäre Verhältnisse und letztendlich in eine Misshandlungsbeziehung. Manche Frauen erfahren vom ersten Moment ihres Lebens an Gewalt.

Die Frauen, die zu uns kommen, sind Studentinnen, sie sind arbeitslos, arbeiten, sind Schülerinnen, sind im Erziehungsurlaub, besuchen Integrationskurse, sind krankgeschrieben …

Sie haben Talente, Hobbies, sind kreativ, sind gebildet oder haben eine schlechte Bildung erfahren. Sie haben ein Studium erfolgreich abgeschlossen, haben Berufsausbildungen, die – falls sie aus anderen Ländern kommen – hier nicht immer anerkannt werden.

Sie bringen Kinder mit, haben keine Kinder, haben längst erwachsene Kinder …

Die politische und gesellschaftliche Lage hat direkte Auswirkungen auf unsere Arbeit.

 

Als die Wende kam, arbeitete ich in einem Frauenhaus. Mit dem Fallen der Mauer kamen die misshandelten Frauen der DDR, die sich in der DDR zwar schnell scheiden lassen konnten, aber weiter mit dem Misshandler in einer Wohnung leben mussten, weil es keine andere Wohnmöglichkeit gab.

Früher waren es zum größten Teil Frauen und Kinder aus dem türkischen und deutschen Kulturkreis, heute kommen die Frauen tatsächlich aus beinahe allen Nationen.

Die Veränderung des EU Rechts hatte enorme Auswirkungen: Frauen aus Rumänien, Bulgarien, Polen, Ex- Jugoslawischen Ländern flüchten in den letzten Jahren verstärkt in die Schutzeinrichtungen.

Die Heirats-und Partnervermittlung über das Internet mit vielen falschen Versprechungen haben ebenfalls zahlreiche Frauen in massive Notsituationen gebracht.

Mit den Flüchtlingen aus Syrien, Afghanistan und anderen Ländern kommen weitere gewaltbetroffene Frauen und ihre Kinder in die Schutzeinrichtungen.

 

Durch unser Angebot von rollstuhlgerechten Plätzen – und dem Angebot für Frauen mit anderen Beeinträchtigungen – kommen Frauen und Kinder mit ganz unterschiedlichen Erkrankungen. Die Frauen und Kinder, die einen Rollstuhl nutzen, sind zum Teil von Geburt an gehbeeinträchtigt, andere benötigen durch Erkrankungen wie MS, Krebs, Rheuma oder andere einen Rollstuhl oder Gehhilfen.

 

Für mich war und ist es eine interessante und wichtige Erfahrung, gemeinsam mit Rollstuhlfahrerinnen unterwegs zu sein – speziell bei Schnee und Glatteis. Die Stadt sieht man aus einer ganz anderen Perspektive – und verschiedene ungeahnte Hindernisse tun sich auf.

 

So individuell wie die Geschichten der Frauen sind, so verschieden sind die Wege, Formalitäten und Erledigungen, die notwendig sind:

Im Vordergrund stehen Behördengänge, Aufenthaltsklärung und -regelung bei Migrantinnen, Suche nach Schulen und Kitas, die Verarbeitung dessen, was erlebt wurde, Neuorganisation des Alltags, Regelung von finanziellen Problemen, Arbeitssuche, rechtliche Fragen, Umgangs- und Sorgerechtsklärung, Erziehungsfragen, etc.

Bildung und Arbeit ist für viele Frauen ein wichtiges Thema: das kann ein Integrationskurs sein, eine Weiterbildung, Ausbildung, Alphabetisierungskurs, Arbeitssuche, …

 

Die Einführung der Verpflichtung zum Besuch von Integrationskursen für MigrantInnen im Jahr 2005 hat für etliche von Gewalt betroffene Frauen dazu geführt, dass sie wenigstens einen Deutschkurs besuchen und dort für sie hilfreiche Informationen erhalten können.

 

Je nachdem wie die Vorerfahrungen von Frauen sind und wie ihr Leben bisher verlief, braucht es Zeit (und viel Geduld), sich neu zu orientieren. Jede Frau muss ihr Leben neu sortieren, neue Perspektiven entwickeln und das, was in ihr an Gewalt widerfahren ist, verarbeiten. Manche Frauen haben zum ersten Mal in ihrem Leben Raum, um ihre Lebenserfahrungen anzuschauen und zu bearbeiten. Es ist immer wieder eine neue Aufgabe und Herausforderung, Frauen und Kinder während ihres Wohnens bei Frauenzimmer e.V. in dem zu begleiten und zu unterstützen, was ihren eigenen Vorstellungen und Bedürfnissen entspricht.

 

Anliegen und Wunsch jeder Frau ist, für sich – und ihre Kinder – ein neues und besseres Leben aufzubauen.

 

Der überwiegende Teil der Frauen zieht nach dem Wohnen bei Frauenzimmer e.V. in eine eigene Wohnung. Ein Teil der Frauen entschließt sich dazu, zu Verwandten oder FreundInnen zu ziehen. Andere Frauen ziehen in Einrichtungen mit betreutem Wohnen. Einige entscheiden sich, zum Ex-Partner oder zur Familie zurückzukehren. Egal, wofür eine Frau sich entschließt, planen wir gemeinsam, wie sie ihr Leben weiter gestalten kann. Dazu gehören Neuanträge bei Behörden, evtl. neue Schul-oder Kitasuche, weitere Hilfsangebote, u. a.

Wenn Frauen in ihre frühere Beziehung oder zu ihrer Familie zurückkehren, besprechen wir, was für sie zu Verbesserungen führen kann, wie z. B. Elterngespräche, Paartherapie, rechtliche Vereinbarungen, Schutzmöglichkeiten …

Die Unterschiedlichkeit der individuellen Geschichten, der Fragestellungen und Lebenswege, das Herausfinden von Möglichkeiten und von Angeboten macht auch nach vielen Jahren die Arbeit immer wieder interessant und lebendig.